Gertrud Kolmar – Die Begrabene

 

Wir folgten alle einem Ziel,
Und was uns hielt, war Lust und Spiel,
Und was uns trieb, war Sorg und Not,
Und was uns lohnte, war der Tod.

Nun lieg ich friedlich hingestreckt
Und bin mit Erde zugedeckt;
„Ich brauch und habe“ blieb nicht mein,
„Ich muß und werde“ ließ mich sein.

Im Lichtland ist Verwesung froh;
Sie färbt ihr Kleid mit Indigo,
Trägts heute glatt und morgen kraus
Und baut den Turm von Babel aus.

Sie hetzt ihr Bild auf Leinewand,
Sie pfählts an Zaun und Zeitungsstand,
Ihr leeres Gieren grinst und rafft
Und heißt Erfolg und Wissenschaft.

Mit rohem Wahnwerk, grassem Mord
Zerschlägt sie hundertsten Rekord,
Im Sarge tobt sie durch die Welt –
Wann findet sie das Gräberfeld?

Sie siegt im Schrei, im Sprung, im Lauf;
Da wacht die Grube endlich auf,
Hat einmal gähnend sich gereckt
Und sie mit Erde zugedeckt.

 

(* 10.12.1894 in Berlin | † vermutlich Anfang März 1943 in Auschwitz)